Werden Sie zum Fragulator

(©Melanie Vogel) In einem älteren Artikel habe ich das Sokratische Prinzip des Fragenstellens schon einmal aufgegriffen. Tatsächlich ist die Kunst des Fragens insbesondere in den letzten Jahren ziemlich aus der Mode gekommen. Dafür gibt es aus meiner Sicht vielerlei Gründe. Zum einen ist es pure Bequemlichkeit, denn fragen und hinterfragen bedeutet für unser Gehirn Energieaufwand. Raus aus der mentalen Komfortzone, rein ins Unwissen. Das muss man wollen – und solange alles läuft, warum sollte man das Wollen wollen?

Ein weiterer Grund liegt meines Erachtens darin, dass die im Fragen implizierte Neugier (mehr dazu in meinem Buch “Der Neugier-Code“) oftmals mit Voyeurismus verwechselt wird. Man möchte anderen nicht zu nahe kommen, man will sich nicht selbst offenbaren, dass an etwas nicht weiß oder nicht verstanden hat und aktuell gibt es durch das digitale/hybride Arbeiten auch deutlich weniger Anlässe als früher, mal eben zwischen Tür und Angel eine Frage zu stellen.

Und ein weiterer Aspekt ist eher ein gesellschaftlicher Trend, der seit einigen Jahren zu beobachten ist. Wer fragt, hinterfragt und kritisch nachfragt stört das Establishment – in diesem Fall einen (medial-politischen) Mainstream, der sich aus diversen, sehr lauten Gruppen zusammensetzt und offenbar den Ton vorgibt. Wer diesen Ton nicht mitsingt oder die Tonspur wechselt, wird aus dem kollektiven Orchester verbannt und findet sich unversehens auf dem digitalen Scheiterhaufen wieder. Beobachtet man diese Form der öffentlichen Ächtung zu häufig, entsteht selbst bei denen, die sich einen kritischen Geist bewahrt haben, das Gefühl, gegen diese Kakophonie anzustinken, sei sinnlos. Das Fragen wird also nicht eingestellt, weil man sich der Macht der Fragen nicht mehr bewusst ist, sondern weil sich die freiheitlichen Machtstrukturen, die einst kritisches Fragen ermöglichten und zu einer diskursfreudigen und entwicklungsfähigen Gesellschaft führten, vollständig umgedreht sind.

Nicht der Nicht-Fragende ist der Dumme, sondern der Fragende wird zum kollektiven Trottel erklärt und verliert als “Schwurbler” jegliches Anrecht auf Intelligenz und Rückhalt in einer unberechenbar wahnsinnig (Definition von nicht pathologischem Wahnsinn: sehr unvernünftiges, unsinniges Denken, Verhalten, Handeln) gewordenen Gesellschaft. Das ist eine Form von Dekadenz, die schon in früheren Zeiten zum Untergang ganzer Zivilisationen geführt hat. Denn eine Gesellschaft, die das Hinterfragen zum Feindesakt erklärt, ist eine Gesellschaft am Rande des Totalitarismus. Zumindest aber ist es eine gedanklich unfreie Gesellschaft, in der Innovation über kurz oder lang zum Erliegen kommen wird.

Rückkehr zur „Fragulation“

Ich halte es daher für (überlebens-)wichtig, dass wir uns für uns selbst, in kleinen Gruppen und dann vielleicht auch in größeren Kontexten stärker denn je wieder mit dem sokratischen Prinzip auseinandersetzen und anfangen, Fragen zu stellen. Unternehmerisch ist es unerlässlich, denn ohne die inhärente Neugier, die im Windschatten kluger Fragen mitschwingt, sind Innovation und Weiterentwicklung schlicht und ergreifend nicht möglich.

Kreieren wir doch in den Unternehmen daher die Funktion der Fragulatorin oder des Fragulators. Wer in dieser Rollenbezeichnung „fraguliert“ erhält durch die Funktion die „offizielle“ Erlaubnis (und damit auch die Rückendeckung top-down), ohne Vorbewertung, Ideologisierung oder Dogma, nicht nur Fragen stellen zu dürfen, sondern auch Fragen stellen zu müssen. Menschen in dieser Rolle sind sich der Macht der Fragen bewusst und fassen Denken nicht als Freizeitbeschäftigung auf, sondern als elementares Menschenrecht und als wesentliche Freiheits-Pflicht eines aufgeklärten Menschen.

Diese „Berufs-Neugierigen“ hinterfragen den Stauts quo – nicht aus Trotz oder aufgrund einer politischen Agenda, sondern um Weiterentwicklung zu fördern. Nicht nur die eigene, sondern auch die Weiterentwicklung anderer Menschen und ganzer Systeme und Organisationen. Denn das ist das Spannende an Fragen: Sie wirken – ähnlich wie die Neugier – wie ein Mückenstich im Gehirn. Eine gut gestellte Frage lädt zu Antworten und zum Mitdenken ein.

Das – und nur das – ist die Basis wirklicher Innovationskraft. Verlieren wir die Kunst des Fragens, verlieren wir die Fähigkeit der Weiterentwicklung und einen wesentlichen Aspekt, der uns Menschen von der Maschine unterscheidet.


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