(© Melanie Vogel) Gehen wir an dieser Stelle philosophisch vor und beschäftigen wir uns zunächst mit dem Begriff. Nehmen wir die Unterstellung doch einmal wortwörtlich: Bei einer UNTERstellung stellen wir etwas oder jemanden unter – meistens unter eine Aussage oder Meinung, die uns nicht gefällt. In dem Moment, wo wir einem anderen Menschen oder einer Gruppe etwas UNTERstellen, steht diese – so können wir es uns bildlich vorstellen – in gebückter Haltung da. Ein anderer Begriff dafür ist die Demütigung. Standfestigkeit und Glaubwürdigkeit sind untergraben. Das ist der Sinn von Unterstellungen: der Angriff auf die Integrität und Würde eines Menschen, einer Meinung, einer Haltung oder einer Erkenntnis, die einem Narrativ zuwider läuft.
Anstelle sich produktiv mit dem mentalen Stachel auseinanderzusetzen – sich gewissermaßen einander VORZUSTELLEN – wird versucht, den anderen Menschen oder die Gruppe durch eine Unterstellung zu Fall zu bringen, sie gesellschaftlich auszugrenzen.
Eine Unterstellung ist ein VORurteil – also ein Urteil, das wir uns bilden, ohne uns mit dem Menschen und dem, was er verkörpert, auseinanderzusetzen. Unterstellungen sorgen dafür, dass Vorverurteilte nicht mühelos und mit Leichtigkeit in die Gesellschaft oder in bestimmte Rollen und Funktionen integriert werden, sondern sich in einem Grundstatus der Selbstverteidigung in Bezug auf die eigene Person befinden.
Gleiches gilt, wenn Bürgerin oder Bürger auf einmal einem Mainstream-Narrativ nicht mehr folgen wollen oder können. Wenn Fragen gestellt und Antworten gefordert werden. Dann brechen diese Menschen aus der Masse aus – und werden urplötzlich zu MINDERheiten – auch dieses Wort ist bezeichnend. „Minder” steht für einen „geringeren Grad”, von „minderer” Qualität – also für etwas Mängelbehaftetes.
Auch im Wort Minderheit steckt eine Unterstellung. Und die scheint seltsamerweise zu einem Automatismus der Masse zu führen – die sich nämlich nun an diesem Mangel, dem Minderbemittelten, dem mit minderer Qualität reibt und unterstellt, nicht „normal”, vor allem aber nicht „massenkonform” und damit „narrativfeindlich“ zu sein. Durch die Unterstellung wird der schwache Gesellschaftsstatus einer Minderheit doppelt untergraben und gleich mehrfach geschwächt.
Tatsächlich kommt kaum jemand, der UNTERerstellt, auf die Idee, sich den Minderheiten VORzustellen, sich also vor sie zu stellen, sich mit ihnen auf Augenhöhe auszutauschen und in einen offenen Diskurs zu gehen, der bei mündigen Erwachsenen eigentlich als selbstverständlich vorausgesetzt werden sollte.
Genau hier entsteht dann auch ein gefährliches Problem. Eine Gesellschaft, die Unterstellungen nicht nur billigt, sondern politisch-medial offen provoziert und durch diese Unterstellungen aus der Gesellschaftsmitte heraus vermeintliche Minderheiten gebiert und sich an ihnen aufgeilt, ist eine Gesellschaft, die totalitären Mechanismen erlegen ist. Eine solche Gesellschaft ist nicht mehr frei.