Stoische Selbstführung

(© Melanie Vogel) Aktuell fühlt es sich so an, als würden wir einmalig schwierige Zeiten durchleben. Kriege, Krankheiten, wirtschaftliche und politische Unruhen und dazu noch Themen wie Klima, Umwelt, Lieferketten und Inflation – und man weiß kaum noch, wo ein Problem aufhört und das nächste anfängt. Traditionen, einst die feste Grundlage unseres Lebens, sind kulturell gespalten und verändern sich stark – hin zu einem tiefgreifenden sozialen Wandel. Das Leben, auf das uns unsere Eltern vorbereiteten, scheint überhaupt keinen Bezug mehr zu den Herausforderungen zu haben, denen wir täglich gegenüberstehen. Kurz gesagt, es gibt viele Gründe, traurig, verzweifelt, überwältigt und frustriert durchs Leben zu gehen.

Schauen wir jedoch in die Geschichte, können wir recht schnell feststellen, dass wir in dieser Hinsicht nichts Besonderes sind. Unsere modernen Umstände mögen besonders und auch besonders komplex sein, doch Sorgen trieben die Menschen schon immer um. Das ist heute nicht anders als vor 2.000 Jahren.
Doch anders als damals können uns heute die Gedankengüter unserer Vorfahren Wege zeigen, mit dem aktuellen, disruptiven Wandel umzugehen.

Die Stoa

Ein wichtiges Gedankengut finden wir in der Stoa. Zenon begründete im 3. Jahrhundert v. Chr. den sogenannten “Stoizismus”. Auch Zenon lebte in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen und Unruhen.
Im Jahr 323 v. Chr. starb Alexander der Große ohne einen offensichtlichen Erben, so dass sein Königreich umkämpft und anschließend aufgeteilt wurde. In der Folge sahen sich viele Griechen mit Traditionen und einer Weltanschauung konfrontiert, die nicht mehr zu der sie umgebenden sozialen und politischen Ordnung passte. 

In dieser existenziellen Verzweiflung entwickelte sich der Stoizismus zu einer einheitlichen Philosophie, welche die natürliche Ordnung des Kosmos verstehen wollte und Wege raus aus dem Chaos suchte. Aus diesem Streben leiteten die Stoiker eine Ethik ab, die sich auf Selbstgenügsamkeit, wohlwollende Ruhe und Gleichmut gegenüber Schmerz, Armut und Tod konzentrierte. Eudaimonia – Zufriedenheit im Hier und Jetzt, trotz aller Widrigkeiten – war das erstrebenswerte Ziel.

Später drang der Stoizismus in die römische Welt vor. Im Mittelpunkt stand nun die Frage, wie ein gesundes Urteilsvermögen, ein angemessener Charakter und die Ablehnung von Lastern auf das tägliche Leben angewendet werden können. Daraus ist über die Jahrhunderte eine Art praktischer Philosophie entstanden, die bis heute ihre Gültigkeit und Aktualität nicht verloren hat. 

Was können wir wirklich kontrollieren?

Beim Stoizismus geht es darum, uns in die richtige Beziehung zu den Dingen zu bringen, die wir kontrollieren können und die Dinge, über die überhaupt keine Kontrolle haben, mit Gelassenheit anzunehmen – denn ändern können wir sie eh nicht.

Schon der römische Kaiser und bekannte Stoiker Marc Aurel stellte fest, dass wir die Veränderung der Welt nicht aufhalten können. Wir können nur beeinflussen, wie wir auf diese Veränderung individuell reagieren wollen. Im Weltschmerz schwelgen oder sich auf die Suche nach Eudaimonia – der inneren Zufriedenheit – begeben? Diese Entscheidung liegt in unserer Hand und hierfür können wir stoisch jeden Tag Verantwortung übernehmen. Mehren wir das Leid der Welt, weil wir mitleiden – oder lindern wir das Leid, weil wir für uns sorgen und aus der Selbstfürsorge heraus viel mehr Kraft entwickeln können, das zu ändern, was in unserer Handlungsmacht zu ändern liegt.

Seneca: „Wir leiden häufiger in der Einbildung als in der Realität.“

Wenn unser Geist mit „äußerlichen“ und „unbeweglichen“ Qualitäten des Lebens gefüllt ist, die wir sowieso nicht verändern können, katastrophisieren wir oft mehr als angemessen ist. Wir sorgen uns, wir übertreiben, wir verkünden, die letzte Generation auf dieser Erde zu sein, wir sehen das Ende der Welt kommen – ohne dass es dafür handfeste Beweise gibt. Nichts davon, so war Seneca überzeugt, ist zielführend und bringt uns weiter.

Im Gegenteil führt der Alarmismus dazu, dass wir jegliche Contenance verlieren, uns über die Gebühr stressen und darüber unsere wirklichen Denkfähigkeiten einbüßen. Kein einziges Problem wird gelöst, sondern nur viele – imaginäre – Probleme werden neu geschaffen.

In den “Briefen an Lucilius” weist Seneca seinen Gesprächspartner Lucilius darauf hin, dass Katastrophisieren nichts nützt. Es macht uns nur vor der Krise schon unglücklich – vorausgesetzt, die Krise kommt überhaupt. Stattdessen, so Senecas Empfehlung, sollten wir das katastrophale Kopfkino unseres Geistes stoisch kontrollieren und das, was vor uns liegt, stattdessen mit der gebotenen Sorgfalt und Aufmerksamkeit behandeln.

Marc Aurel unterstützte Seneca in diesem Punkt und stellte fest: „Wer die Bewegungen seines eigenen Geistes nicht beobachtet, muss zwangsläufig unglücklich sein.“
Weder Seneca noch Marc Aurel empfahlen, Schmerz, Trauer, Stress, Wut oder andere unerwünschte Gefühle zu unterdrücken. Diese Emotionen gehören zum Leben dazu und sind wichtige Signalgeber. 

Vielmehr lehren uns die Stoiker, unsere Emotionen nicht so stark werden zu lassen, dass sie uns überwältigen oder uns blind machen für den Weg der Vernunft. Es ist besser, die Quelle der Emotion zu verstehen und sie mit der richtigen Sorgfalt zu behandeln, als weiterhin im Geiste zu leiden und andere mit diesem Leid anzustecken.
Schwierige Zeiten sind nicht ausschließlich nur schwierig, sondern immer auch Wege zu Wachstum und Erkenntnis. Zeiten immenser sozialer und politischer Unruhen waren menschheitsgeschichtlich bisher immer auch kulturelle Wiedergeburten, die neue Denk- und Ausdrucksweisen hervorbrachte.

Das wird heute nicht anders sein als früher.


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