(© Melanie Vogel) Staatliche Autoritätsbeziehungen ermöglichen es seit Tausenden von Jahren, unglaublich vielfältige Organisationen und Systeme zu kreieren. Sie legen den Grundstein dafür, dass wir komplexe alltägliche soziale Koordinierungsaufgaben systematisch angehen und vereinfachen können. In der sich wandelnden VUCA-Welt verlieren diese Autoritätsbeziehungen jedoch die nötige Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Sie werden starr oder durch Misstrauen und Konflikte innerhalb und außerhalb der Systeme so stark beeinträchtigt, dass der soziale Zusammenhalt verloren geht und Chaos entsteht. In diesem Fall drohen Organisationen, Gemeinschaften oder Gesellschaften zu zerbrechen.
Funktionsgestörte Autoritätsbeziehungen können sich auf mindestens drei verschiedene Arten entwickeln:
Menschen sind in einen Zustand maladaptiver (= fehlangepasster) Abhängigkeit. Sie haben zu wenig Vertrauen in sich selbst oder setzen zu viel Vertrauen in andere. Wenn wir heranwachsen, beugen wir uns zunächst von Natur aus und dann aus Gewohnheit den Menschen, die Autorität haben. Aber manchmal brechen Menschen nie aus dieser Gewohnheit aus und erkennen nicht, dass sie Macht über sich selbst haben. Aus dieser internierten Opferrolle heraus werden sie verletzlich und abhängig innerhalb genau der Autoritätsbeziehungen, die in veränderungsreichen Zeiten neu ausgehandelt werden müssen.
Gesellschaftsverträge veralten. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau formulierte 1762, kurz vor der amerikanischen und französischen Revolution, die Theorie des Gesellschaftsvertrags. Er vertrat die Ansicht, dass eine gerechte Regierungsform nur entstehen kann, wenn sich die Bürger freiwillig und aus einer tiefen Einsicht heraus zusammenschließen. Der Einzelne gibt Rechte, Macht und Eigentum teilweise ab, bekommt dafür aber viel mehr zurück. Da er als souveräner Staatsbürger zugleich Herrscher und Untertan ist, hat er ein vitales Interesse daran, dass nur vernünftige Entscheidungen getroffen werden. Jegliche Autoritäten sind von dieser freiwilligen, informellen Zustimmung der Menschen abhängig. Wer diese Zustimmung verliert, verliert auch seinen Machtanspruch. Damit die Idee des Gesellschaftsvertrages fruchten kann, besteht für Rousseau die Notwendigkeit einer Sicherheit, die besagt, dass sich alle Vertragsteilnehmer an die gesetzten Regeln halten müssen und diesen nicht zuwiderhandeln. In veränderungsreichen Zeiten fallen diese Sicherheiten weg oder sie verändern sich. Folgerichtig müssten im Sinne Rousseaus die Gesellschaftsverträge – das Zusammenspiel zwischen Bürger und Staat oder allgemeiner formuliert: zwischen Menschen und Autoritäten – neu verhandelt werden. Die Voraussetzung dazu wäre, dass die Menschen eine gemeinschaftliche Stimme finden, kooperieren und sich zusammenschließen, um als „Verhandlungsmasse“ Gehör zu finden.
Wir erwarten zu viel von anderen und geben daher die Verantwortung ab. Eine weitere Funktionsstörung besteht darin, dass viele Menschen zu viel von anderen erwarten und daher bereit sind, bestehenden Autoritäten eine enorme Macht über ihr Leben anzuvertrauen. Oft in dem – naiven – Glauben, dass diese hohen Erwartungen erfüllt werden. In disruptiven Zeiten suchten Menschen schon immer nach Erlösung, starken Anführern und Menschen, die einen Weg hinaus aus dem Chaos weisen und in den zerbrechenden Strukturen eine Illusion von Halt und Orientierung aufrechterhalten. In solchen Zeiten werden Menschen anfällig für falsche Versprechungen und einfache Antworten. Die Psychologie kennt dieses Phänomen als „the need for closure“ – der Wunsch nach schnellen Lösungen. Hirn und Psyche können langandauernde Zustände von Ambiguität, Chaos und Unsicherheit nicht gut aushalten. Wem das dazu notwendige Maß an Resilienz fehlt, wird anfällig für Manipulation und gibt das letzte bisschen vorhandener Selbstmacht gern an Obrigkeiten und autoritäre Instanzen ab, um endliche wieder ein Gefühl von Ruhe, Ordnung und Systematik empfinden zu können. Die damit verbundenen überzogenen Erwartungen an Autoritäten schaffen nicht nur einen Markt für Scharlatane, sondern machen es selbst guten Autoritätspersonen schwer, den Menschen gegenüber ehrlich und vertrauenswürdig zu bleiben.