Denken ist ein Menschenrecht

(© Melanie Vogel) Die rasanten Fortschritte in der Entwicklung von KI-Systemen werfen weitreichende ethische und menschliche Fragen auf, welche die Grundlagen unserer Gesellschaft zutiefst erschüttern. Durch die Fähigkeit, KI immer weiter perfektionieren zu können, verstärkt sich bei vielen das Gefühl menschlicher Unvollkommenheit, denn der Wunsch nach Perfektion ist menschheitsgeschichtlich bis dato unerreicht, während die Künstlichen Intelligenzen immer besser – und immer leistungsfähiger werden.

Neuestes Beispiel: Deep South, der weltweit erste neuronale Supercomputer, entwickelt vom International Centre for Neuromorphic Systems (ICNS) der Western Sydney University, steht kurz vor seiner Aktivierung. Die KI verfügt über die Fähigkeit, Gehirnnetzwerke im Maßstab eines tatsächlichen menschlichen Geistes nachzuahmen. Dazu verwendet Deep South ein sogenanntes neuromorphes System, das biologische Prozesse simuliert: sagenhafte 228 Billionen synaptische Operationen pro Sekunde! Diese Rate ist vergleichbar mit dem, was Wissenschaftler glauben, dass das menschliche Gehirn zu leisten vermag.

Deep South soll ein tieferes Verständnis der Gehirnfunktionen ermöglichen, um so die Entwicklung effektiverer KI-Systeme voranzutreiben. Gleichzeitig sollen die Erkenntnisse auch Fortschritte in Bereichen wie Sensorik, Biomedizin, Robotik und Raumfahrt ermöglichen. Eine neue Stufe in der KI-Entwicklung ist also erreicht – und die Abfolge technologischer Evolutionssprünge wird immer kürzer und bietet uns Menschen daher immer weniger Anpassungszeit.

Die Intelligenz-Hierarchie ist gestört

Die europäische Philosophiegeschichte trennte tausende von Jahren den Geist von der Materie. Das Animalisch-Lusthafte, das Fleischliche wurde dem instinkthaft Tierischen zugeordnet. Gesucht wurde nach Aspekten, die den Menschen von allen niederen Lebewesen unterscheidet. Gefunden hat man das Geistige: die Ratio, die Logik und die Vernunft. In der mittelalterlichen „scala naturae“ stand der vernunftbegabte Mensch an der Spitze der Naturwelt.

Die Krone der Schöpfung, die über den Tieren und den Werkzeugen steht und die Welt nach eigenem Gutdünken gestaltet und verändert, wurde jedoch mit der Entwicklung der ersten Computer einem heftigen Realitätscheck unterzogen. Denn schnell war klar, dass Computer sehr gut sind im logischen und abstrakten Denken. So gut sogar, dass sie fehlerfreier arbeiten als der Mensch. Die Intelligenz-Hierarchie der vergangenen Jahrhunderte funktioniert folglich nicht mehr.

Spätestens seit ChatGPT und den vielen Hundert weiteren, in rasender Geschwindigkeit entstehenden Künstlichen Intelligenzen, wird klar: Nicht nur in Logik, Analyse und Datenverarbeitung glänzen die technologischen Werkzeuge. Plötzlich sind sie auch in der Lage Musik zu komponieren, Bilder zu malen oder als digitaler Therapeut zur Verfügung zu stehen. Kein Lebens- und Wirkungsbereich des Menschen ist sicher vor dem Siegeszug der KI. Die KI droht, den Menschen als Krone der Schöpfung vom Thron zu stoßen.

Der bedeutendste Philosoph der Aufklärung war der Denker Immanuel Kant, von dem auch der Leitsatz der Aufklärung stammt: „Sapere aude! – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Nach Kant ist Aufklärung „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“

Wie sollen wir uns also verhalten? Welche Position sollen wir beziehen, ohne als technikfeindlich zu gelten?

Wir sollten uns heute sehr kritisch fragen, inwieweit uns der technologische Fortschritt in vielen Bereichen unseres täglichen Lebens zu einer selbstverschuldeten Unmündigkeit 2.0 verführt und welche Folgen das für uns haben kann. Wo ziehen wir – selbst-bewusst – Grenzen und haben wieder den Mut, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen?

Menschen sind komplexe, emotionale Wesen. Unser Bewusstsein für unsere eigene Sterblichkeit hat uns zu Kunst und Philosophie geführt. Wir sind die Nachkommen von Platon und Sokrates. Wir denken, deshalb sind wir. Denken ist mehr als nur ein biologischer Prozess des Gehirns; es ist der fundamentale Antrieb menschlicher Existenz. Von jeher haben Menschen ihre Gedanken genutzt, um Ideen zu formen, Innovationen voranzutreiben und die Welt um sich herum zu gestalten. Die Fähigkeit zu kreieren, zu gestalten, zu fühlen und zu analysieren, unterscheidet uns von allem anderem Leben auf unserem Planeten.

ChatGPT ist eine technologische Meisterleistung. Der generierte Inhalt ist bemerkenswert kohärent. Aber mit ChatGPT wird die Entwicklung nicht aufhören, sondern sie hat gerade erst begonnen, wie Deep South zeigt.

Das Recht zu denken in einer Ära der Künstlichen Intelligenz bedeutet, die Auswirkungen dieser Technologien auf unsere individuelle Autonomie zu verstehen. Die Implementierung von Algorithmen und maschinellem Lernen muss transparent und ethisch gestaltet sein. Dies erfordert eine kritische Betrachtung der Algorithmen, die unsere Entscheidungen beeinflussen, sowie Mechanismen zur Überprüfung und Kontrolle dieser Technologien.


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