(© Melanie Vogel) Der Begriff der konstruktiven Paranoia wurde von Jared Diamond in seinem Buch „The World Until Yesterday“ geprägt. Seine Beobachtung: Menschen in der westlichen Gesellschaft neigen dazu, die Auswirkungen von Ereignissen, die sich ihrer Kontrolle entziehen, zu übertreiben und die Auswirkungen von Ereignissen, die sie selbst kontrollieren können, zu unterschätzen. Die Variablen Zeit und Häufigkeit sind bei dieser Form der Risikoabschätzung relevant, denn sie verändern die gesamte Risikoperspektive von Grund auf.
In Seminaren habe ich standardmäßig eine Übung eingebaut, in der es darum geht, dass die Teilnehmenden reflektieren, wo ihr Handlungsspielraum anfängt und endet. Denn dort, wo wir das Gefühl haben (oder auch durch Erfahrung lernten), dass wir Dinge und Situationen kontrollieren können, können wir pro-aktiv werden und z.B. Risiken minimieren, bewusste Entscheidungen treffen oder zielführend Komplexität reduzieren.
Tatsächlich stellt diese Übung für die meisten Teilnehmenden jedes Mal eine große Herausforderung dar, denn im Alltag wird nur höchst selten über den eigenen Handlungsspielraum reflektiert. Viel stärker liegen Fokus und Stress auf genau den neuralgischen Punkten, an denen die Menschen – egal ob Mitarbeitende oder Führungskräfte – sowieso nichts ändern können.
Die Aufregung über Regulatorien ist beispielsweise im Regelfall sehr hoch. Der Erregungszustand über das teameigene Mikromanagement hält sich allerdings in Grenzen, denn das wird als normal wahrgenommen. Tatsächlich sollte die Wahrnehmung umgekehrt sein. Die vom Team selbst geschaffenen Regulatorien sind für das Team (und damit auch für das gesamte Unternehmen) viel gefährlicher als Vorgaben, die beispielsweise von der Politik geschaffen werden. Dass die Politik überbürokratisiert, ist mittlerweile normal und ein sicheres Zeichen für ein brechendes System. Überbordendes Kontrollverhalten im Team ist nicht normal – führt aber genauso zielsicher zu brechenden Systemen.
Konstruktive Paranoia hilft, diese Fehleinschätzungen zu erkennen, denn es beschreibt den innerlich empfundenen Respekt vor Gefahren mit geringem Risiko, denen man allerdings häufig ausgesetzt ist. Durch die Häufigkeit ändert sich der Grad des Risikos von niedrig zu hoch. Daher ist es wichtig zu erkennen, dass scheinbar risikoarme Tätigkeiten, wenn sie häufig ausgeführt werden, zu hochriskanten Aktivitäten werden können.
Diese Form des Risikos bleibt dem rationalen Verstand meist verborgen. Intuitiv sind allerdings fast alle Menschen in der Lage, diese Risiken zu erkennen. Das Bauchgefühl täuscht hier selten, allerdings wird es von der Umwelt häufig abwertend als „irrational“ abgestuft.
Weil es sich um ein Bauchgefühl handelt, das diese Form von Risiken intuitiv selektieren kann, fehlen vor allem im Unternehmenskontext häufig Zahlen, Daten, Fakten und eine sachliche Begründungsstrategie, weswegen dem „irrationalen Bauchgefühl“ in vielen Fällen nicht gefolgt wird. So entstehen im Unternehmenskontext schwerwiegende Fehlentscheidungen, die wiederum hohe Risiken in sich tragen.
Wer also intuitiv versteht, dass Mikromanagement im Team eine Vollkatastrophe ist, müsste Zahlen und Begründungen vorlegen können, warum das so ist. Diese fehlen. Auch für mein Buch „Raus aus dem Mikromanagement“ war es schwierig, an verlässliches Datenmaterial zu kommen. Mit viel Recherche ist es mir gelungen, doch die Zeit dafür wird im Unternehmenskontext kaum eine Führungskraft aufbringen (können).
Die Ärgernisse, die politische Regulatorien verursachen, liegen im Regelfall allerdings klar auf der Hand. Sie sind oft so brutal undurchdacht, ziehen einen Rattenschwanz an Veränderungen im Unternehmen nach sich und jedem ist klar: Hier werden Zeit und Geld für etwas investiert, dessen positive Auswirkungen vermutlich als minimal einzustufen sind. Als Beispiel sei hier einfach mal die DSGVO genannt… Aktuelle Beispiele kann sich der geneigte Leser/die geneigte Leserin selbst heranziehen. Es gibt derzeit genügend…
Was verursacht die fehlgeleitete konstruktive Paranoia?
Mehrere Aspekte führen dazu, dass Menschen Risiken, die sich aus den Faktoren Zeit und Häufigkeit ableiten könnten, falsch einschätzen.
Fehlendes Kontextverständnis: In der hochkomplexen Welt, in der wir uns bewegen, benötigen wir die Fähigkeit, eine Situation im Kontext betrachten zu können. Zeit und Häufigkeit sind zwei von vielen Situationsparametern, die Klarheit über das Umfeld geben, in welches eine Situation oder eine wiederkehrende Handlung eingebettet ist. Kontextverständnis wird in den gängigen Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen kaum gelehrt.
Verfügbarkeitsheuristik: Hierunter versteht man die Fähigkeit von Menschen, Ereignisse je nach ihrer Verfügbarkeit in Erinnerung behalten zu können. Wenn sich Menschen beispielsweise an ein spektakuläres Ereignis erinnern, so halten sie dieses grundsätzlich für wahrscheinlicher, als Alltagsereignisse, die so routiniert ablaufen, dass man sich häufig nicht an sie erinnert. Eine politische Regulation ist spektakulärer als die alltägliche „Nur-über-meinen-Schreibtisch-Mentalität“. Die relative Häufigkeit wird hier im Regelfall falsch eingeschätzt, weil der Sensationscharakter zu einer kognitiven Verzerrung führt.
Optimismusverzerrung: Hier überschätzen Menschen die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von guten Ereignissen und unterschätzen gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von schlechten Ereignissen. Hieraus folgen häufig Fehlplanungen (z.B. bei großen Bauprojekten) oder ein ausgeprägtes Fehlverhalten (z.B. in Gesundheitsfragen). Der Grund für diese Verzerrung basiert auf der Motivation, bestimmte Ziele erreichen zu wollen. Diese Motivation verbessert die Selbstwahrnehmung und verringert die Angst. Wenn jetzt noch eine hohe wahrgenommene Kontrolle über die Situation hinzukommt, ist die Optimismusverzerrung umso stärker.
Begrenzte Rationalität: Anders als viele Generationen lang gelehrt, weiß man heute: der Mensch ist nicht in erster Linie ein rationales, sondern ein irrationales Wesen. Wir lassen uns zuerst von Emotionen und dann (mit viel Glück und Selbstbeherrschung) vom Verstand leiten. Wir haben folglich kognitive Grenzen und können nur innerhalb der Grenzen unseres Wissens und des Kontexts, in dem wir uns befinden, rationale Entscheidungen treffen.
Mediale Kakophonie: Die Medien sind zumindest teilweise für die genannten mentalen Abkürzung verantwortlich, da sie – sensationsbedingt – Risiken, die nicht kontrolliert werden können und sehr selten sind, überbewerten. Aufsehenerregende Anomalien lösen halt deutlich mehr Klicks aus als die Alltagsrisiken, denen wir alle ausgesetzt sind.
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