Keith Richards und die Relativität der Zeit

(© Melanie Vogel) Kürzlich stolperte ich über ein Zitat von Keith Richards. Der legendäre Gitarrist der Rolling Stones schrieb auf seinem Twitter-Account „Some doctor told me I had six months to live and I went to his funeral. I’ll write all your epitaphs!“ Das Zitat ist von 2016. Keith Richards lebt immer noch. Sein Arzt ist tot. So wie vor ihm mindestens 36 weitere, die im Dienst von Keith Richards Gesundheit standen. In einem Interview sagte er einmal: „Ich habe mich und meinen Körper als eine Art Privatbesitz betrachtet, mit dem ich experimentieren konnte. So nach dem Motto: ‘Oh, nehmen wir mal diesen Stoff und schauen, was es mit mir macht.’ Ich bin wie Dr. Jekyll, ich war mein eigenes Versuchskaninchen.“

Keith Richards ist ein Phänomen, bei dem das Zitat „Totgesagte leben länger“ passt wie Faust auf Auge. Seit 1986 unken Ärzte und medizinisches Personal, Keith Richards würde nicht lange leben. Immer wieder rieten sie ihm, Alkohol und Drogen aufzugeben – und wenn schon Entzug, dann doch bitte auch von Frauen und Affären.

Die Langlebigkeit der Rolling Stones und insbesondere die von Keith Richards, ist ein Mysterium, das sich unter Umständen nicht medizinisch erklären lässt, sondern vielmehr zeitphilosophisch.

Albert Einstein, der Vater der Relativitätstheorie, hat gezeigt, dass die physikalische Zeit relativ ist und nicht absolut. Auch die Stones beweisen: Nichts ist absolut – schon gar nicht das Alter. In den Anfangsjahren kreierten sie mit Rock’n Roll eine neue Jugendkultur und jetzt, in ihren senioren Tagen, erfinden sie eine Art des Alterns, die uns glauben lässt, dass Zeit – und damit auch das Alter – tatsächlich relativ ist und im jeweiligen Auge des Betrachters schlicht und ergreifend keine Rolle spielt. Marcel Proust formulierte es so:

Keith Richards mag mit dem Alter milder geworden sein, aber der ikonische Gitarrist, der genug Aufsehen erregt hat, um mehrere Leben zu füllen, scheint sich um die Zeit wenig zu sorgen. „Ich habe mich nie in Frage gestellt. Und ich frage mich auch heute nie, ob ich zu alt bin, ob ich das alles meinem Körper noch zumuten soll. Das bringt doch nichts. Du machst es einfach, du machst einfach immer weiter. Nein, mit meiner Beerdigung habe ich mich noch nicht beschäftigt. Es fällt mir schwer, solche Gedankenspiele über die Zukunft anzustrengen.“

Vielleicht ist es die stoische Verankerung in der Gegenwart, welche die Faszination von Keith Richards ausmacht, der neben Mick Jagger das einzige noch lebende Gründungsmitglied der Stones ist. Doch auch die Identität der Band selbst widersetzt sich den Zeichen der Zeit. Wann immer ein Bandmitglied die Gruppe verlässt oder stirbt, wird es durch einen neuen Musiker ausgetauscht. Bislang hat es kein einziges neues Bandmitglied geschafft, die Invarianz – die Unveränderlichkeit – der Band zu erschüttern. Die Stones bleiben die Stones – über Jahrzehnte hinweg. Diese Form der identitären Beständigkeit ist nicht nur im Musikgeschäft einzigartig, sondern auch aus unternehmerischer Perspektive ein Phänomen.

Ganz zu schweigen von der individuellen identitären Robustheit. Keith Richards sieht man seine Jahre schon seit Jahrzehnten an und doch hat er nichts von seinem ursprünglichen Charme verloren. Ungebrochen ehrlich dem Leben zugewandt, immer noch neugierig und energievoll, auch wenn die Knochen schmerzen mögen. Man darf vermuten, dass Keith Richards, der am 18. Dezember 2023 schwer zu glaubende 80 Jahre alt wurde, in seinem Leben das ein oder andere darüber verstanden hat, wie man mit der menschlichen Verfassung am besten klarkommt. Eine Art persönliche Philosophie, ordnungsgemäß getestet und für gut befunden.

Sind es seine vielen Rendezvous’ mit dem Tod, die ihn das Leben intensiver genießen lassen? Ist es eine Form der Unbekümmertheit, dem Leben – komme, was wolle – die Stirn zu bieten? Ist es kreativer Wahnsinn, Zeit und Alter einfach zu ignorieren? Ist es die inhärente Angst vor dem Tod, die ihn ans Leben fesselt? Ist es eine Form von Renitenz der Endlichkeit gegenüber, die ihn – so sagt es die Legende – die Asche seines Vaters schnupfen ließ? Oder ist es die Untrennbarkeit mit einem lebenden Mythos, der sich „Rolling Stones“ nennt, die ein inneres Gefühl von Unsterblichkeit entstehen lässt?

Die Unsterblichkeit – symbolisiert durch die Steine und ein buchstäbliches in Stein gemeißelt Sein – während gleichzeitig das rollende, bewegende Element spielerische Leichtigkeit vermittelt. Nichts ist so schwer und so unverrückbar, dass es nicht doch – mit Leichtigkeit – durch die Zeit rollen kann und dann, wenn es soweit ist, das Unvermeidliche mit ausgestrecktem Mittelfinger begrüßt.

Keith Richards selbst drückte es einmal so aus: „Ich bin auf beides vorbereitet: Entweder erwartet mich das große Nichts oder… es beginnt ein neuer Trip. Ich weiß nur eins: Wenn ich den Teufel treffen sollte – dann helfe ihm Gott.“


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