Stoische Lehren für schwierige Zeiten

(© Melanie Vogel) In Zeiten globaler Krisen wächst das Bedürfnis nach psychologischer Stabilität und Sinnorientierung. Der Stoizismus, eine Philosophie, die im 3. Jahrhundert v. Chr. in Athen entstand, bietet ein praxisnahes Modell zur Bewältigung solcher Herausforderungen. Zentrale Konzepte der Kontrolle, Selbstgenügsamkeit und Tugendethik sind bis heute zeitlose Leitlinien für den Umgang mit Unsicherheit, Leiden und sozialer Verantwortung.

Kriege, Krisen, ökonomische Unsicherheiten und gesellschaftliche Polarisierung prägen die Gegenwart. Viele empfinden diese Epoche als außergewöhnlich schwierig. Doch das Gefühl, in einer Zeit existenzieller Unsicherheit zu leben, ist kein modernes Phänomen.

Schon in der Antike standen Menschen vor politischen Umbrüchen, Machtverlust und sozialer Entwurzelung. Aus dieser Erfahrung heraus entstanden philosophische Systeme, die Wege zu innerer Stabilität aufzeigten – darunter der Stoizismus als Philosophie des Gleichmuts und der Tugend.

Der Stoizismus wurde im 3. Jahrhundert v. Chr. von Zenon von Kition in Athen gegründet. Seine Lehre entstand in einer Zeit massiver Umbrüche nach dem Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.), als die griechischen Stadtstaaten in große, anonyme Imperien integriert wurden.

Der Philosoph Chloé Valdary bezeichnet diese Epoche als eine Zeit der „existentiellen Heimatlosigkeit“. Menschen hatten ihre sozialen und politischen Bezugssysteme verloren. Der Stoizismus bot damals, wie heute, Orientierung: Er lehrte, dass Glück und Ruhe aus der inneren Haltung entstehen, nicht aus äußeren Umständen.

Der Stoiker strebt nach Eudaimonia – einem Zustand gelingenden Lebens – durch die Kultivierung von Tugend, rationalem Denken und Akzeptanz dessen, was außerhalb der eigenen Kontrolle liegt.

Marcus Aurelius (121–180 n. Chr.), römischer Kaiser und Philosoph, erinnert daran, dass äußere Ereignisse uns nur dann verletzen, wenn wir ihnen Macht über unsere Seele geben.

In seiner Selbstbetrachtungen (Buch IV) schreibt er: „Das Universum ist Veränderung; das Leben ist Meinung.“

Diese Einsicht trennt das, was wir kontrollieren können (unsere Reaktionen, Gedanken, Werte), von dem, was wir nicht kontrollieren können (äußere Ereignisse).

Psychologisch gesehen entspricht dies dem Konzept der internen Kontrollüberzeugung (Rotter, 1966). Indem wir unsere Energie auf das richten, was in unserer Macht liegt, vermeiden wir unnötiges Leiden und stärken unsere Selbstwirksamkeit.

Epiktet (ca. 50–130 n. Chr.) lehrte, dass wir selbst Handwerker unseres Lebens sind. In den Unterredungen vergleicht er das Leben mit einem Werkstück: Wir können es nicht frei wählen, aber wir bestimmen, wie wir es gestalten.

Diese Haltung schließt Verantwortung ein – insbesondere die Verantwortung für die eigenen Emotionen. Epiktet rät, sich auf die eigene innere Haltung zu konzentrieren, statt die Emotionen anderer zu kontrollieren.

Dieses Prinzip findet sich heute in der emotionalen Selbstregulation und der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) wieder, die betonen, dass wir unsere Reaktionen gestalten können, auch wenn wir äußere Umstände nicht bestimmen.

Seneca (4 v. Chr.–65 n. Chr.) analysierte in seinen Briefen an Lucilius (Epistula XIII) ein universelles psychologisches Muster: die Katastrophisierung.

Wir neigen dazu, zukünftige Ereignisse zu übertreiben und uns vor imaginären Krisen zu fürchten. Moderne Psychologie bestätigt dieses Phänomen als negativity bias und als Bestandteil von Angststörungen.

Senecas Rat: Konzentriere dich auf das, was tatsächlich geschieht, nicht auf das, was du befürchtest. Marcus Aurelius ergänzt dazu:

Der Stoizismus lehrt also keine Emotionslosigkeit, sondern eine bewusste Distanz zur gedanklichen Verzerrung – eine frühe Form kognitiver Umstrukturierung.

Epiktet verwendet den Mythos des Herkules als Allegorie: Ohne seine Prüfungen wäre er nie zu Stärke und Tugend gelangt. Schwierigkeiten sind also nicht nur unvermeidbar, sondern notwendig für persönliches Wachstum.

Moderne Forschung stützt diese Sichtweise: Laut Psychologe Paul Bloom empfinden Menschen ihre Arbeit als besonders sinnvoll, wenn sie mit Anstrengung und Risiko verbunden ist: „Wir brauchen Schmerz und Anstrengung, um ein reiches und erfülltes Leben zu führen.“

Dies deckt sich mit der stoischen Auffassung, dass Tugend nur in der Auseinandersetzung mit Widrigkeit geformt wird. Stoiker suchen das Leid jedoch nicht aktiv, sondern akzeptieren es als Gelegenheit zur Entwicklung.

Entgegen gängiger Vorurteile ist der Stoizismus keine kalte Philosophie der Selbstbezogenheit. Seneca betont die soziale Dimension der Tugend: Mitgefühl und Gemeinschaft.

In Epistula V schreibt er: „Ich mache einen Menschen zu meinem Freund, um jemanden zu haben, für den ich sterben würde.“

Freundschaft und Mitmenschlichkeit sind Ausdruck der stoischen Vernunft, die erkennt, dass wir Teil eines größeren Ganzen sind (kosmopolis).

Die moderne Stoizismusforscherin Chloé Valdary fasst es so zusammen: „Stoizismus bedeutet, Mitgefühl für andere ebenso zu entwickeln wie Selbstmitgefühl auf unserer Reise zu Glück und Erfüllung.“

Damit schließt sich der Kreis: Gelassenheit ohne Empathie ist Selbstschutz, Gelassenheit mit Empathie ist Weisheit.

Die stoischen Prinzipien der Selbstwirksamkeit, Akzeptanz, Emotionsregulation und Sinnorientierung finden sich heute in vielen psychotherapeutischen Ansätzen wieder:

  • Kognitive Verhaltenstherapie (CBT): Entwickelt von Albert Ellis und Aaron Beck – beide erklärten, dass stoische Philosophie, insbesondere Epiktet, ihre Arbeit inspirierte.
  • Resilienzforschung: Stoische Disziplin stärkt die psychische Widerstandskraft gegenüber Stress.
  • Positive Psychologie: Tugendorientierung und Sinnhaftigkeit (Eudaimonia) sind zentrale Komponenten des Wohlbefindens.

Die fünf stoischen Zitate lehren keine Resignation, sondern aktive Gelassenheit:

  • Akzeptiere das Unveränderliche.
  • Übernimm Verantwortung für dein Denken und Handeln.
  • Erkenne, dass Leiden oft mental konstruiert ist.
  • Nutze Herausforderungen als Übung.
  • Pflege Mitgefühl – mit dir selbst und anderen.

In einer Welt, die von Unsicherheit geprägt ist, kann Stoizismus zu einer modernen Lebenskunst werden: rational, mitfühlend und mutig zugleich.


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